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Eine gerechte Weltsozialpolitik, Wirtschafts- und Handelspolitik auf Grundlage der Menschenrechte, Einsatz gegen die Verschärfung der Ungleichheit in den einzelnen Ländern und der Kampf gegen den Klimawandel – es sind eigentlich altbekannte Forderungen, die Pfarrer Andreas Lipsch und die ehemalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul da aufzählen. Und doch werden sie nicht müde im Angesicht der hohen Zahl der Menschen, die derzeit aus ihren Heimatländern fliehen, sie immer wieder zu betonen: „Wer glaubt, Fluchtursachen könnte man schnell bekämpfen, der irrt. Das sind alles Maßnahmen, die werden dauern – jahrzehntelang.“
Darin sind sich die beiden Entwicklungsexperten einig.
Zu einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung, organisiert vom Lutherforum und der Evangelischer Stadtakademie, sind die ehemalige Bundespolitikerin Wieczoreck-Zeul und der Migrations- und Flüchtlingsexperte der EKHN, Andreas Lipsch, am Mittwochabend gekommen. Mehr als 50 Menschen diskutierten mit an diesem Abend im Luthersaal, der unter dem Titel „Fluchtursachen ,made in Europe‘“ stand – es war die dritte Veranstaltung einer mehrteiligen Reihe die Fluchtursachen in den Blick nimmt.
Immer wieder warben Lipsch und Wieczoreck-Zeul, die im Wechsel sprachen und sich in beinah allen Punkten sehr einig waren, für einen realistischen Blick auf die Flüchtlingssituation: „Wir haben es hier nicht mit einer Katastrophe zu tun“, stellte Lipsch deutlich klar. „Wir können die Situation gestalten. Knapp 90 Prozent der Menschen bleiben in ihren Ländern und in den Ländern ihrer Region. Es ist nur ein sehr kleiner Teil, der nach Europa kommt. Das wäre für einen so potenten Staat wie unseren zu managen. Das ist für uns keine Katastrophe.“ Hinzu komme, so Lipsch, dass es sowieso nie die Ärmsten seien, die sich auf den Weg machen: „Sätze, wie, dass das ganze arme Afrika auf den Weg nach Europa sei – die stimmen schlichtweg nicht. Es gibt kein Land, wo so wenig migriert wird, wie südlich der Sahara.“
Sehr deutlich hielt Lipsch den Menschen auch den Spiegel vor: „Wenn man die Bilder von Flüchtlingen abends im Fernsehen nicht mehr sieht, denkt man, das Problem ist irgendwie geregelt. Aber das stimmt nicht.“ Dass sich die Bundesregierung und die europäischen Staaten derzeit fast ausschließlich darum kümmern würden, Fluchtwege dicht zu machen und die Menschen zurück in ihre Länder zu führen – das sei fatal, eine politische Bankrotterklärung.
Ähnlich sah es auch Wieczorek-Zeul, die anprangerte unter welch strikter Geheimhaltung etwa über Waffenexporte entschieden werde: „Das ist schon absurd, wenn man sich gleichzeitig anschaut, dass das Entwicklungsressort der Bereich ist, der am genausten überprüft wird.“
Auch wenn die ehemalige Ministerin bei der Bekämpfung von Fluchtursachen von einem Generationenprozess sprach, benannte sie dennoch viele positive Beispiele aus der Entwicklungszusammenarbeit , etwa die Unterstützung von Ghana beim Aufbau eines Steuersystems oder ein Schweizer Modelabel, das auf seinen Etiketten über die fairen Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern informiert. Ganz deutlich machte sie, dass man der AfD und ähnlichen Gruppierungen eine entschlossene Zivilgesellschaft entgegensetzen müsse und dass man ohne das Engagement dieser Zivilgesellschaft politisch sowieso nichts umsetzen könne: „Engagieren Sie sich“, rief sie den Wiesbadenerinnen und Wiesbadenern im Luthersaal zu: „Seien Sie Leuchttürme!“
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Die nächste Veranstaltung aus der Reihe „Wenn Menschen fliehen…“ ist am Freitag, 4. November, 19.30 Uhr, im Literaturhaus Villa Clementine. Zu Gast ist die Literaturwissenschaftlerin Franziska Jekel mit einem Vortrag zu Marie NDiayes Roman „Trois femmes puissantes“.
Fotos: Andrea Wagenknecht