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Der Ausbau von Ganztagsschule oder entsprechenden Betreuungsangeboten ist derzeit ein wichtiges Thema in Politik und Öffentlichkeit. Dabei stellt sich eine zentrale Frage: „Welche Erwartungen haben Kinder an die Ganztagsschule oder Betreuungsangebote?“. Erstaunlicher Weise wurde der Beantwortung bis heute jedoch wenig Beachtung geschenkt.
Um so aufmerksamer folgten die Zuhörer am Montag, 17. September, den Ausführungen von Professorin Sabine Andresen, die an der Frankfurter Goethe-Universität umfassende empirische Studien zur sozialen Lage und zur Meinung der Kinder durchführt. In ihrer 4. World Vision Kinder-Studie wurden 2.500 Kinder zwischen 6 und 11 Jahren befragt.
Wie in der gesamten Bundesrepublik, wird auch in Wiesbaden über die zukünftige Struktur von Schule nachgedacht und der traditionelle „Halbtag“ um Bildungs- und Betreuungsangebote ergänzt. Um Qualität und Akzeptanz dieser Angebote weiter zu steigern, kam auf Einladung des Sozial- und Bildungsdezernats Sabine Andresen, Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt, ins Wiesbadener Rathaus, um aus der World Vision Studie sowie weiteren Untersuchungen zu berichten. Bereits am Titel ihres Vortrags „Muss das sein?“ - Kinder und ihre Sicht auf ganztägige Angebote - Ergebnisse der Kindheitsforschung - wurde deutlich, dass die Kindersicht nicht immer deckungsgleich ist mit Ansätzen und Zielsetzung der Akteure in der Bildungspolitik.
Rund 60 Fachkräfte aus Schule und Betreuungsträgern der Kinder- und Jugendhilfe im Stadtverordnetensitzungssaal konnte Stadtrat Christoph Manjura zum Vortrag willkommen heißen. In seiner Ansprache erläuterte er, dass mit dieser Veranstaltung das Sozial- und Bildungsdezernat die 2014 eingeschlafene Vortragsreihe „Bildung schafft Zukunft“ wiederaufnimmt. Ziel ist es, bei drei bis vier Veranstaltungen im Jahr in loser Folge über Themen und Fragestellung des Projektes „Bildung integriert…Wiesbaden“ zu diskutieren.
Bevor Frau Professorin Andresen ihren Vortrag startete, berichtete die Kinder- und Jugendhilfeplanerin des Amtes für Soziale Arbeit, Beate Hock, über die vielfältigen Angebotsarten in der Ganztagsbildung für Grundschülerinnen und Grundschüler. Auf Grundlage des aktuell vorgelegten Berichts „Nachmittagsangebote Bildung, Erziehung und Betreuung für Grundschulkinder“ zeigte sie den deutlichen Ausbau und die Vielfalt im Bereich der Nachmittagsangebote in den letzten Jahren auf. In Wiesbaden besuchen 63 Prozent der Grundschulkinder Betreuungsangebote am Nachmittag. Die Schule und der Schulhof sind damit für die meisten Kinder die zentralen Lebensorte, wo sie nicht selten sieben und mehr Stunden des Tages verbringen.
In ihrem Vortrag ging Professorin Andresen der Frage nach, welche Faktoren für das Gelingen eines Ganztagsangebotes zuständig sind, aber auch welche Herausforderungen sich bei der Ausgestaltung von ganztägigen Angeboten stellen. Ziel muss es sein, das Wohlbefinden der Kinder zu fördern.
Dimensionen von Wohlbefinden, die auf das Leben von Kindern wirken, sind unter anderem Bildungsteilhabe, Beziehungsqualität, Zeitsouveränität, Familienlage, Materielles, Partizipation, Freundschaften, aber auch eine wichtige Rolle, da sie – neben Familie und Freunden – das Leben der Kindern beeinflussen. Dies galt schon zu Zeiten, als Schule tatsächlich eine Angelegenheit war, die sich von 8:00 bis 12:00 oder 13:00 Uhr abspielte. Wenn nun der Schultag deutlich länger andauert, der Ort Schule für deutlich mehr Stunden pro Tag definierter Aufenthaltsort für Kinder ist, um wieviel stärker wirken Raumgestaltung, Schulklima, Teilhabe- und Mitbestimmungsmöglichkeiten auf die Kinder und ihr Wohlbefinden?
Professorin Andresen machte deutlich, dass die Ganztagsschule oder ganztägige Angebote die Beziehungsqualität und die Partizipation der Kinder stärken müssen, um ihnen ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Aus Sicht der Kinder betrifft dies vor allem die Beziehung zu Klassenkameradinnen und -kameraden und zu Lehr- und Fachkräften, aber auch das Klassen- und Schulklima insgesamt.
Kinder wünschen sich am Nachmittag vor allem Sportangebote, Kunst- und Theater-AGs sowie an Projekten teilzunehmen. Interessanterweise ist auch der Wunsch nach Hausaufgabenbetreuung in den letzten Jahren gestiegen. Dies führt die Referentin darauf zurück, dass immer häufiger beide Elternteile erwerbstätig sind. Eine Hausaufgabenbetreuung könne in diesem Zusammenhang dabei helfen, das Konfliktpotenzial innerhalb der Familie zu senken und Freiraum für nichtschulische Aktivitäten zu schaffen.
Überraschend sind die Ergebnisse der Forscherin im Hinblick auf die herkunftsbenachteiligten Kinder, das heißt Kinder aus Familien mit niedrigen Einkommen oder niedriger Bildung. Einerseits sind diese Kinder in Ganztagsangeboten eher unterrepräsentiert und andererseits sind den Ergebnissen der 4. World Vision Studie zufolge diese Kinder weniger zufrieden mit ihrer Zeit im Ganztag. Kinder mit Armutserfahrungen machen häufiger Erfahrungen mit Ausgrenzung, Mobbing, Ängsten und Unsicherheiten. Sowohl im Vortrag als auch verstärkt in der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass es beim Ganztag nicht allein um Schule und Lehrkräfte geht, sondern dass der Leitbegriff „Ganztagsbildung“ beinhaltet, dass Kinder vielfältige Bildungsangebote in unterschiedlichen Lern- und Lebenswelten erhalten, die auf stabilen und wertschätzenden Bindungen nur durch ein Zusammenwirken von multiprofessionellen Fachkräften entstehen können.
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