ANZEIGE
Am Montagmittag, gegen 13:00 Uhr, hat sich in Oestrich-Winkel im Rheingau in dem Tanklager eines kunststoffverarbeitenden Betriebes ein Unfall während eines Produktionsprozesses, wahrscheinlich durch das Eindringen von Wasser in das System, ereignet. Damit sind verschiedene Rohstoffe zusammengeführt worden und es entstand eine unkontrollierte thermische Reaktion – mit fatalen Folgen. In dem Tank befand sich Isocyanat mit einem hohen Anteil giftiger Blausäure. Die gesundheitsschädigenden austretenden Gase haben bei 18 Feuerwehrmännern während des Einsatzes zu leichten bis mittel-schweren Verletzungen geführt.
Für Wiesbaden hatte der Zwischenfall, der sich etwa 20 Kilometer entfernt im Rheingau ereignet hat, zur Folge, dass über einen langen Zeitraum zahlreiche Einsatzkräfte der Feuerwehr, des Rettungsdienst, Notärzte sowie Einsatzleitung und Sondereinheiten für den Umgang mit Giftstoffen von ihrem eigentlichen Einsatzgebiet abgezogen wurden. Damit es zu keinem Versorgungsengpass für die Wiesbadener Bevölkerung kam, wurden Verstärkungskomponenten alarmiert, die für genau so einen Fall, bereitgehalten werden. Verschiedene Freiwillige Feuerwehren übernahmen die aus Wiesbaden deckten die verwaisten Wachbesetzungen an den drei Feuerwachen ab.
Die gegen Mittag bei der Leitstelle eingegangene Meldung, es seien gefährliche Giftstoffe aus einer Fabrik in Oestrich-Winkel ausgetreten, wurde schnell zunehmend bedrohlicher. Dem entsprechend wurden immer mehr Einsatzkräfte und –fahrzeuge aus dem ganzen Umland zur Verstärkung des Einsatz-Teams im Rheingau zum Unfallort entsendet. Die Wiesbadener Berufsfeuerwehr fuhr mit gleich mehreren Fahrzeugen und Helfern zu dem Schadensort am Rhein. Auch Rettungswagen, Notärzte und Polizisten aus der Landeshauptstadt setzten sich nach Oestrich-Winkel in Bewegung. Dort wurden sie den verschiedenen Arbeitsbereichen zugeteilt. Polizeikräfte übernahmen die weiträumigen Absperrmaßnahmen am Unglücksort und begannen mit der Evakuierung von Schulen, Kindergärten und Supermärkten. Es kam nun niemand mehr in die Stadt rein, der dort nichts zu suchen hatte. Straßen waren gesperrt, der Zugverkehr eingestellt und auch die Schiffe auf dem Rhein durften Oestrich-Winkel nicht mehr passieren.
Die besorgten Bewohner wurden mit Lautsprecherdurchsagen gebeten, in den Häusern mit verschlossenen Fenstern und abgeschalteten Belüftungsanlagen zu bleiben. Über Rundfunk und Fernsehen sollten sie sich weiterhin über die aktuelle Lage informieren. Die Wohngebiete in unmittelbarer Nähe des Betriebsgeländes wurden komplett evakuiert.
In den Horst-Schmidt-Kliniken (HSK) in Wiesbaden wurde der Katastrophenplan des Krankenhauses aktiviert. Man richtete sich jetzt nur noch ausschließlich auf die eventuelle Versorgung von “Giftgaspatienten“ ein. Das bedeutete, das weitgehend keine neuen Patienten aufgenommen wurden. Zur Unterstützung dieser Aufgaben wurden das Deutsche Rote Kreuz, der Arbeiter Samariter Bund und die Johanniter Unfall-Hilfe zur HSK hin alarmiert und die dort einen Behandlungsplatz aufbauen sollten. Nachdem die erwartete Menge an Verletzten ausblieb, konnten diese wieder einrücken.
Spezialkräfte der Feuerwehreinheit Infraserv, die auf den Umgang mit Chemieunfällen trainiert sind sowie mehrere ABC-Züge (mit Schutzmitteln gegen atomare, biologische und chemische Gefahr an Bord) wurden ebenfalls von ihrem Einsatzgebieten abgezogen. Gegen Abend spitzte sich die Lage dann dramatisch zu. Die Einsatzkräfte sahen sich nun der Angst einer unkontrollierten Explosion des Tanklagers gegenüber. Man legte vorsorglich Wasserleitungen aus dem Rhein zum Tanklagergelände, um im Notfall auf zügige Löscharbeiten an dem unter Druck stehenden Behälter vorbereitet zu sein.
Sämtlicher personeller Einsatz wurde vor Ort gegen 19:00 Uhr erhöht und nun evakuierte man den Großteil des Ortes komplett. Mehrere Mannschaftstransportfahrzeuge der Feuerwehr wurden aus Wiesbaden, dem Main-Taunus-Kreis, Idstein und dem kompletten Rheingau nach Oestrich-Winkel geschickt, um die 700 Personen aus der Bevölkerung von dort wegzubringen. Es wurden dafür so viele Helfer wie möglich mobilisiert. Aus Wiesbaden rückten auch für die Einrichtung von Notunterkünften in Schulen und Turnhallen außerhalb des Ortes drei SEGen, sogenannte Schnelle Einsatz-Gruppen an. Auch der Betreuungsbus der Berufsfeuerwehr war dort im Einsatz.
Stundenlang war die Situation in dem Weinort angespannt. Die Vorbereitungen der Evakuierung waren im vollen Gange, als gegen 22:00 Uhr die erfreuliche Nachricht kam: "Es gibt eine erste Tendenz, dass der Tank nicht mehr ausdampft", sagte der Sprecher des Rheingau-Taunus-Kreises, Christoph Zehler. Die chemische Reaktion sei vermutlich abgeklungen. Nun konnte man die Lage erstmalig wieder als stabil bezeichnen. Spezialisten war es offensichtlich gelungen, ein kleines Loch in den unter Druck stehenden Tank zu bohren, um eine Explosion zu vermeiden.
Gegen 22:45 Uhr dann kam die endgültige Entwarnung von Seiten der Fachdienststellen am Einsatzort. Die Evakuierungen wurden abgebrochen, nachdem man davon ausgehen konnte, dass mit dem Austritt von Blausäure nicht mehr gerechnet wird und die Lage unter Kontrolle ist.
Gegen 2:20 Uhr passierte dann doch noch das, womit laut Expertenmeinung nicht mehr zu rechnen gewesen war – es kam zu einer Verpuffung in dem Tanklager. Daraufhin wurde ein Großteil der Einsatzkräfte wieder an den Unfallort zurückgerufen. Dort begann man dann mit der Prüfung der Luftbelastung durch Schadstoffe mittels Messgeräten. Auch die Absperrmaßnahmen wurden wieder verschärft.
Es kann aufgrund von Folgemaßnahmen der Feuerwehr im Bereich der Einsatzstelle und der B 42 weiterhin zu Verkehrsbeeinträchtigungen bis in die frühen Morgenstunden und darüber hinaus kommen.
Unter der Telefonnummer 06723 / 992148 ist für ratsuchende Bürgerinnen und Bürger ein Bürgertelefon eingerichtet.
Außerdem werden die Anwohner über regionale Rundfunksender auf dem Laufenden gehalten.
Fotos: AV