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Das aufgebaute Zirkuszelt auf dem Dern'schen Gelände war am vergangenen Donnerstag, dem ersten Abend der European Youth Circus Vorstellungen gerappelt voll. Jung und Alt saßen gespannt nebeneinander und warteten auf den Beginn des Programms, als Kulturdezernentin Rose-Lore Scholz die Manege betrat und die Gäste, Artisten und Mitwirkenden der Veranstaltung dankte. Die Schirmherrschaft für den Circus hat in diesem Jahr Bundesministerin Dr. Kristina Schröder übernommen, die selbst aber nicht zugegen sein konnte. Anschließend übernahm Nachrichtensprecherin und Schauspielerin Natascha Berg die Moderation und führte charmant und wortgewandt durch den aufregenden Abend und verknüpfte die einzelnen Programmpunkte geschickt.
Die gezeigten Kunststücke wurden von einer hochkarätigen und prominenten Jury bewertet, die direkt vor der Manege platziert war. Die „Lizenz zum Bewerten“ hatten dieses Jahr Johnny Klinke (Tigerpalast Varieté Frankfurt am Main), Rocco Liguori (Circus Festival Latina), Zsuzsanna H. Mata (European Circus Association aus Ungarn), Alfred Reichle (Circus-, Varieté und Artistenfreunde aus der Schweiz), Lindenstraße-Schauspielerin Rebecca Siemoneit-Barum (Barum & Bauer Performances) und Anastasia Voladas (Artistin des European Youth Circus aus Weißrussland) erhalten und erfüllten Ihre Mission, einem sechsköpfigen James Bond gleich, meisterlich. Am Ende des Abends wurden die Punkte in den vorgegebenen Disziplinen verteilt.
Neben den Akteuren leisteten vor allem die Mitarbeiter im Hintergrund ganze Arbeit. Das Orchester, das über der Manege thronte, untermalte das Programm mit immer passgenauer und stimmungsvoller Musik. Ohne das stumme und behände Team hinter Cheftechniker Radek Cadil wäre das Chapiteau wohl recht schnell im Chaos versunken – mal von der Sicherheit der Artisten ganz abgesehen. Alles war gut organisiert und hervorragend aufeinander abgestimmt. Und zwar so effektiv, dass man sich als Zuschauer ganz auf die 26 „Youngster“ konzentrieren konnte – die jungen Manegenstars von morgen.
Was anfing, wie eine schnöde Unterrichtsstunde unter einer strengen Lehrerin, entpuppte sich sehr bald als eine clevere Idee, die einzelne Artisten, Duos und Trios vorzustellen und die Zuschauer erahnen zu lassen, was jedem Einzelnen das Spezialgebiet ist und mit was für einem Programm aufgetreten wurde. Die grübelnde Menge war nun auf den Abend eingestimmt und los ging es.
Es gab in dem Zirkuszelt auf dem Dern'schen Gelände viel zu sehen im Verlauf der Vorstellung. Es gab leidenschaftliche und tänzerische Artistik, wahnwitzige Jonglage, Kunststücke an Strapaten, Körperbeherrschung pur, perfektes Timing, geschickte Fingerfertigkeiten und lustige Wortspiele. Mit jedem Auftritt hatte man das Gefühl, dass man eine Nummer so noch nie gesehen hatte und teilweise überhaupt nicht möglich sein kann. Und noch etwas hatten alle Auftritte gemeinsam: Wer immer die Manege betrat, hatte derartigen Spaß an dem was dort gezeigt wurde, dass man die Energie praktisch mit den Händen greifen konnte.
Als erstes trat die Oldenburgerin Lisa Rinne an einer überdimensionalen Strickleiter und anschließend an einer etwa sieben Meter hohen Riesenschaukel auf und zeigte mit einer Reihe von ausdrucksstarken Übungen, wie man mit Körperbeherrschung, Rhythmusgefühl und Geschick die Schwerkraft einfach außer Gefecht setzt und mit gutem Timing genau da landet, wo man hinmöchte. Gerade sie begeisterte mit einer authentischen und freudestrahlenden Ausstrahlung das gebannt beobachtende Publikum.
Im Anschluss daran nahm das Trio „Momento di Passione“ aus der Ukraine die Zuschauer in ihren Bann. Kraft, Gleichgewicht und Leidenschaft sind die Schlagwörter, die man benötigt um das Gesehene zu beschreiben. Es gibt ein irrwitziges Bild, wenn zwei bildschöne grazile Frauen einen noch grazileren Mann nur zu zweit auf ihren Hüften balancieren, während er so getragen in purer und perfekter Körperbeherrschung einen einhändigen Handstand vorführt. Von Tangoklängen begleitet machten die drei unmögliche akrobatische Figuren wahr und dabei stets lächelnd den Eindruck, es koste kein bisschen Kraft und Konzentration. Auf diese Damen kann man wirklich bauen. In weiteren Verlauf trat noch das Zwillingspaar Gerasymenko Brothers auf, das ebenfalls mit viel Körperbeherrschung und Kraft sowie perfekt abgestimmten Timing übereinander hinweg sprang und sich gegenseitig durch die Luft wirbelte. Spielerisch trugen sie ihr hochspannendes Programm vor und überzeugten mit bestimmt hart antrainierter Leichtigkeit.
Auch wenn Jonglage zu den ältesten Zirkuskünsten gehört und man stets glaubt, alles bereits gesehen zu haben, wird es doch nie langweilig und ein neuer Aspekt ist dann doch immer wieder dabei. Der junge Moldave Serghei Gusar schaffte es jedenfalls das Publikum mit seiner konzentriert sympathischen Art zu verzaubern. Die schwirrende Bälle und Keulen flogen in einem solch atemberaubenden Tempo durch die Luft und er war in seinen Bewegungen so schnell, dass einem schwindelig werden konnte. Selbst die Fliehkräfte schienen vor ihm zu fliehen.
Es waren an dem Abend noch weitere Jonglage-Akte mit Hüten, Diabolos und Hula Hoops zu sehen. Alle verzauberten mit Perfektion und Können und mit ihrer Begeisterung für das was sie tun und ihrer Liebe zum Zirkus, die man mit jeder Bewegung spüren konnte. Es war unter den Jongleuren auch der 25-jährige John Pathic, mit bürgerlichem Namen eigentlich Yussuf Haji-Nasir, dabei. Er kommt aus Wiesbaden und hat mit neun Jahren in der „1. Wiesbadener Circus- und Varietéschule Fratii Dumitru“ angefangen zu lernen. Er brach die Arbeit dann dort ab und absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker. Mit 22 Jahren widmete er sich dann wieder der Arbeit am Zirkus und entdeckte seine Liebe zur Jonglage. Die Show mit den Hüten ist rhythmisch perfekt und er überzeugt mit seiner hippen und gelassen fröhlichen Ausstrahlung. Außerdem arbeitet er nebenbei als Clown-Doktor.
Eine etwas polarisierende Übung dürfte die von Deutschen Daniel Golla gewesen sein. Er betrat die Manege mit deinem Koffer, aus dem er eine Fernbedienung hervorholte und anschließend ließ er ein etwa halben Meter großes Flugzeug durch den geöffneten Vorhang einfahren. Es erhob sich die Luft und flog dann nur wenige Zentimeter über den Köpfen der Besucher hinweg, Loopings vollziehend, an der Luft haltend, Schrauben fliegend und einfach rhythmisch zur poppigen Musik hin und her schwirrend. Es folgten Flüge mit Glitzerbändern, Konfetti - das ganz zufällig über der Jury herabregnete - und LED-Beleuchtung. Einige Zuschaue meinten, solch eine Show hätte in einem Zirkus nichts zu suchen, aber viele fanden es auch toll. Klar ist, dass das Daniel Golla wohl niemand so leicht nachmachen kann und von viel Geschick zeugt. Die Jury dürfte es wahrlich schwer gehabt haben, sich für einen Artisten zu entscheiden.
Für alle, die nicht wissen was sich hinter dem Begriff Strapaten verbirgt, wurde an dem Abend für Aufklärung gesorgt. Das sind jene Stoffseile, an denen sich beispielsweise die französische Elodie Weise, mit Künstlernamen Adele Fame, in bizarren Körperhaltungen in die Luft heben lässt und sich dort in luftiger nur mit purer Körperkraft im Spagat hält. Das eigene Körpergewicht zu halten war wohl bei den luftakrobatischen Übungen überhaupt kein Problem. Zu stimmungsvoller Musik ging es entweder an Händen oder Füßen gehalten an den zwei Seilen rauf und runter. Es hatte etwas von einer sehr reizvollen Marionette. Später folgte noch die Russin Elizaveta Reznichenko an den Seilen, die den Strapaten ähnlich sind. Nur hier gibt es keine Schlaufen in den Seilen und sie sind flattriger. Ebenfalls sehr witzig und unterhaltsam waren die Kunststücke von Passe-Pieds am Trapez, zwei jungen Damen aus Deutschland und Belgien. Das eheähnliche Verhältnis der beiden sorgt für viel Vertrauen untereinander, aber auch Reibungen und Zickerei, die aber wiederum sehr witzig ist.
Völlig ruhig und gelassen stellte sich die ebenfalls russische Alesya Laverycheva auf die zwei fest montierten Stelzen in der Manege, die nur über eine etwa 10 cm große Stellfläche verfügen. Und eh man sich versieht, macht sie einen gehockten Handstand und klemmt sich die grazilen Beine unter den Brustkorb und die Arme. Derartig verrenkt scheint sich die junge Russin erst richtig wohl zu fühlen. Weitere anmutige, komische und absolut unmögliche Übungen lassen vermuten, dass sich nicht ein einziger Knochen im Körper der Artistin befindet. Die hätten dabei nämlich definitiv gestört. So konnte sie ihre Gliedmaßen in Positionen und an Körperstellen führen, wo sie überhaupt nichts zu tun hatten.
Natascha Berg sagte während sie den nächsten Künstler anmoderierte, dass der European Youth Circus ein tolles Sprungbrett für die jungen Artisten sei. Mit in den Tribünen saßen die Gewinner des Publikumspreises vom letzten Youth Circus in 2010. Das Paar geht demnächst mit auf Tournee im Circus Roncalli und hat es damit geschafft. Es gibt allerdings auch Artisten, die den Ausspruch wörtlich nehmen. Das Trio Dac aus Belgien und Frankreich nutzte den Auftritt als Sprungbett mittels einer übergroßen Wippe, die im Verlauf dann buchstäblich als Sprungbett genutzt wurde. Sie schleuderte sich damit gegenseitig mehrere Meter in die Luft und landeten dann stets auf den Füßen. Es ging in atemberaubendem Tempo mit Salti, Schrauben und riskanten Sprüngen über-, unter und nebeneinander her. Die Positionen als Flieger, Pusher und Troublemaker wurden ständig getauscht und trotzdem lief es ganz koordiniert ab. Jeder wusste, was er zu tun hatte und wo die anderen sich gerade befanden. Es wurde sich blind aufeinander verlassen. Diese drei Jungs machten einfach Spaß und werden den Absprung bestimmt schaffen.
Der gesamte Wettbewerb mit seinen 42 Artisten aus 14 europäischen Ländern ist in zwei Gruppen geteilt, die ihre Leistungen dann an je einem Abend und je einem Vormittag präsentieren und der Jury damit zeigen, was sie können. Außer den gewöhnlichen Preisen, gibt es auch noch die Möglichkeit für das Publikum aktiv zu werden. Es wurden beim Eintritt Bewertungskarten verteilt, auf denen man seinen Favoriten ankreuzen konnte. Nach der Auswertung wird damit ein Publikumsliebling ermittelt und prämiert.
An diesem Abend gab es viel zu sehen. Die einzelnen Akte waren mit viel Energie, Begeisterung und Akribie vorgetragen worden. Für jeden einzelnen aus dem Publikum war klar, dass diese jungen Artisten noch eine große Zirkuszukunft erwartet und wünschte ihnen in Gedanken viel Erfolg und Glück auf ihren Wegen. Gespannt wird nun auf das Jahr 2014 geschaut, in dem der nächste European Youth Circus stattfindet und uns mit neuen Attraktionen bezaubern wird.