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Das Instrument des kommunalen Bürgerentscheids wurde zum 1. April 1993 in die hessische Gemeindeordnung aufgenommen. Seitdem fanden hessenweit 171 Bürgerentscheide statt. Für die Bürgerinnen und Bürger in Wiesbaden war es jetzt das zweite Mal, dass sie über eine Frage in direkt-demokratischer Weise abstimmen konnten.
Am 1. November 2020 hatten die Wiesbadenerinnen und Wiesbadener Gelegenheit, über den Bau einer Straßenbahn in ihrer Stadt – mit Anbindung an Mainz, Taunusstein und Bad Schwalbach - zu entscheiden. Zur Abstimmung berechtigt waren wie bei Kommunalwahlen alle volljährigen Deutschen und übrigen EU-Staatsangehörigen, die seit mindestens sechs Wochen in Wiesbaden ihren Hauptwohnsitz hatten.
Vorausgegangen war dem Bürgerentscheid eine Diskussion, die bis in die 1990er Jahre zurückreicht. 2019 wurden zwei Bürgerbegehren, die sich gegen das Projekt einer Stadtbahn richteten, von der Mehrheit der Stadtverordnetenversammlung als unzulässig abgelehnt; gleichzeitig wurde angekündigt, mit einem sogenannten Vertreterbegehren einen Bürgerentscheid herbeizuführen.
Magistrat und Stadtverordnetenversammlung befürworteten ausdrücklich die Realisierung des Projekts, wollten die Entscheidung darüber aber den Bürgerinnen und Bürgern überlassen. In ihrer Sitzung am 2. Juli hat die Wiesbadener Stadtverordnetenversammlung dann die Durchführung des Bürgerentscheids mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit beschlossen.
Die zu entscheidende Frage lautete: „Soll der Verkehr in Wiesbaden, zur Vermeidung von Staus und weiteren Verkehrsbeschränkungen für den Autoverkehr, durch eine leistungsfähige Straßenbahn (Citybahn) von Mainz kommend über die Wiesbadener Innenstadt bis Bad Schwalbach weiterentwickelt werden, um Verkehrszuwächse aufzufangen und Umweltbelastungen (Luftverschmutzung, Lärmbelastung) zu verringern?“
Der Bürgerentscheid zur Citybahn war die erste Wahlhandlung in Wiesbaden, die unter den Einflüssen der Corona-Pandemie organisiert und durchgeführt werden musste. Dies stellte sowohl das Wahlamt als auch die ehrenamtlichen Wahlhelferinnen und Wahlhelfer vor große Herausforderungen. So konnten beispielsweise die in Alten- und Pflegeheimen untergebrachten Wahllokale nicht genutzt werden und mussten durch andere Räumlichkeiten ersetzt werden. Zudem waren in sämtlichen Abstimmungsräumen strenge Hygienevorgaben zum Schutz der Mitglieder des Wahlvorstands und der Abstimmenden einzuhalten - hinsichtlich Raumgröße, Durchlüftungsmöglichkeiten, Bereitstellung von Handdesinfektionsmitteln und anderem mehr.
Von den 209.204 Stimmberechtigten nutzten 96.671 die Möglichkeit zur Stimmabgabe, das entspricht einer Abstimmungsbeteiligung von 46,2 %. Bei nur zwei Alternativen (JA oder NEIN) gestaltete sich der Stimmzettel sehr einfach, und es gab nur wenige ungültige Stimmen (269 oder 0,3 %). Quorum erreicht und Mehrheit bei „NEIN“ Von den gültigen Stimmen entfielen 37,9 % auf JA und 62,1 % auf NEIN. Gleichzeitig lag die Zahl der NEIN-Stimmen mit 59 868 weit über dem erforderlichen Quorum von 15 % der Stimmberechtigten, so dass der Bürgerentscheid im Ergebnis gegen die Citybahn ausfiel. An diese Entscheidung ist die Wiesbadener Stadtverordnetenversammlung nun drei Jahre gebunden.
Die Mehrzahl der Abstimmenden bevorzugte den Gang zur Urne, während 37,7 % per Brief votierten – beinahe ein neuer Rekord. Zum Vergleich: An der letzten Bundestagswahl hatten sich 30,5 % und an der letzten Landtagswahl 26,0 % der Wähler und Wählerinnen per Brief beteiligt. Der Trend zur postalischen Stimmabgabe hatte sich schon in den letzten Jahren immer wieder fortgesetzt. Hinzu kam, dass unter den schwierigen Pandemiebedingungen verstärkt auf die Möglichkeit der Briefabstimmung hingewiesen worden war, die dann auch rege wahrgenommen wurde.
Insgesamt hatten 39.390 Personen einen Stimmschein beantragt; tatsächlich eingesetzt haben ihn dann 36.696 (entweder per Brief, per Stimmschein im Abstimmungsraum oder vorab persönlich im Wahlamt bzw. einer Ortsverwaltung). Damit liegt die „Rücklaufquote“ bei 93,2 %. Anders ausgedrückt: Knapp sieben Prozent der Stimmscheininhaber haben entweder auf die Stimmabgabe verzichtet oder die Unterlagen unvollständig oder zu spät zurückgeschickt.
Was die Abstimmung für bzw. gegen die Citybahn betrifft, gibt es zwischen Urnen- und Briefwählern geringe Unterschiede: 61 % der Urnenwähler und 64 % der Briefwähler votierten mit NEIN. Projektgegner haben demnach die Möglichkeit zur Briefwahl etwas stärker genutzt als Projektbefürworter.
Die Beteiligung am Bürgerentscheid fiel innerhalb des Stadtgebiets sehr unterschiedlich aus. Mit Blick auf die Ortsbezirke rangiert die Quote zwischen 30,1 % (Amöneburg) und 66,9 % (Heßloch). Insgesamt wird die aus vorangegangenen Wahlen bekannte Tatsache bestätigt, dass sich die Bevölkerung sowohl in den innerstädtischen Quartieren als auch in Amöneburg, Kastel und Kostheim in geringerem Maße beteiligt, während sie sich in den Außenbezirken überdurchschnittlich engagiert.
Besonders hoch war die Teilnahmequote in Heßloch, Sonnenberg, Igstadt und Kloppenheim – stabile Wohngebiete mit geringer Bevölkerungsfluktuation und einem alteingesessenen Mittelstand.
Man hätte erwarten können, dass das Thema „Citybahn“ gerade diejenigen beschäftigt und zur Abstimmung motiviert, die entlang oder in der Nähe der geplanten Straßenbahntrasse wohnen. Diese Vermutung lässt sich anhand der Wahlergebnisse allerdings nicht erhärten: In den „trassennahen“ Stimmbezirken lag die Beteiligung bei 47,3 % und damit nur geringfügig über der in den „trassenfernen“ Gebieten (45,9 %). Es sind wohl soziodemographische und siedlungsstrukturelle Einflussfaktoren, die stärker auf die Abstimmungsbeteiligung wirken als eine potentielle Betroffenheit.
Auch in der Beantwortung der zu entscheidenden Frage differieren die Ansichten je nach Lage im Stadtgebiet. Der Anteil der Projektbefürworter reicht auf Ortsbezirksebene von 27,5 % (Frauenstein) bis 63,4 % (Westend, Bleichstraße). Lediglich in drei der 26 Ortsbezirke stellen die Befürworter die Mehrheit (Mitte, Westend/Bleichstraße, Rheingauviertel/Hollerborn) – in allen anderen Stadtteilen wurden mehr NEIN- als JA-Stimmen registriert. Mit Blick auf die Stimmbezirke wird eine noch höhere Streuung offensichtlich: Der JA-Stimmenanteil liegt zwischen 21,1 % und 70,0 %.
Die kartografische Darstellung zeigt, dass sich die oppositionelle Haltung gegenüber dem Verkehrsprojekt „Citybahn“ über das gesamte Stadtgebiet verteilt und nur im Stadtzentrum und in Kastel grüne „Inseln der Zustimmung“ verbleiben.
Im Übrigen gibt es zwischen der Abstimmungsbeteiligung und dem Votum selbst keinen nachweisbaren Zusammenhang; die hohe Wahlbeteiligung hat sich (abgesehen vom leicht erreichten Quorum) nicht auf die JA-NEIN-Relation ausgewirkt. Mit anderen Worten: Der Ausgang des Bürgerentscheids spiegelt den Mehrheitswillen in der Stadt wider; er ist jedenfalls nicht darauf zurückzuführen, dass eines der beiden „Lager“ von Befürwortern und Gegnern seine Sympathisanten besser oder schwerer hätte zur Abstimmung mobilisieren können.
Auch die Nähe zur geplanten Citybahntrasse spielt für das Votum für oder gegen das Verkehrsprojekt nur eine untergeordnete Rolle. Zwar haben potentielle Anrainer mit 39,4 % etwas häufiger mit „JA“ gestimmt als die übrigen Stimmberechtigten (37,6 %), doch fällt der Abstand mit knapp zwei Prozentpunkten kaum ins Gewicht. Die befürchteten Nachteile wiegen für die meisten Wiesbadener schwerer als die erwarteten Vorteile – und das unabhängig von der räumlichen Nähe zur geplanten Bahn.
Abschließend lohnt sich ein kurzer Blick auf das Abstimmverhalten in den Hochburgen der einzelnen politischen Parteien. Diese werden aus den Ergebnissen mehrerer früherer Wahlen ermittelt und bilden jene Wahlbezirke ab, in denen die Parteien wahlübergreifend besonders überdurchschnittliche Erfolge erzielen konnten.
Nicht alle Wiesbadener Parteien standen hinter dem Projekt „Citybahn“. Während die Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung das Vorhaben unterstützte, vertrat die FDP offensiv ihre ablehnende Haltung und warb auf zahlreichen Plakaten für ein „Nein“. Bereits im Jahr 2001 hatten die Freien Demokraten ihre Gegnerschaft zu diesem Verkehrsprojekt als kommunales Wahlkampfthema aufgegriffen und waren damit durchaus erfolgreich gewesen.
Zwar offenbart sich die oppositionelle Einstellung gegenüber der Citybahn durchaus in den Hochburgen der FDP – aber sie ist genauso stark ausgeprägt in denen der SPD, der CDU und der AfD. Ganz anders dagegen verhielten sich die Abstimmenden in den Hochburgen der GRÜNEN und der LINKEN; dort beantwortete eine deutliche Mehrheit die gestellte Frage mit „JA“. Die Hochburgen der beiden letztgenannten Parteien liegen überwiegend im Innenstadt- und innenstadtnahen Bereich.
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Grafiken: Amt für Statistik und Stadtforschung