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Wie oft geht man in Wiesbaden an den Kirchen vorbei. Von außen vertraut, haben viele Bürger sie oft noch nie betreten, um sie von innen zu sehen. Die 15. Nacht der Kirchen, bot am Freitag, 2. September eine gute Gelegenheit, die zu ändern.
Die Facetten der Wiesbadener Kirchen bescherte an diesem Abend vielen Besuchern Aha-Erlebnisse, neue Ideen oder überraschende Einsichten. Denn die Nacht, so die evangelische Stadtkirchenpfarrerin Anette Kassing in der Eröffnungsandacht in der Marktkirchenkrypta, schärft unsere Sinne und lässt uns intensiver spüren. Davon überzeugten sich mehrere tausend Kirchennachtbesucher.
St. Bonifatius, wunderbar von außen und innen ausgeleuchtet, wirkte in der Dunkelheit fast mystisch.
Die Menschen entdeckten das Gotteshaus in dieser Nacht allerdings sehr modern - per Smartphone und You-Tube-Video. In der Kirche Maria Hilf hat Sebastian Heeß auf der Orgel Ungewöhnliches erklingen lassen. Popsongs, etwa bekannte Balladen von Coldplay, wurden in einem stimmungsvoll illuminierten Kirchenraum präsentiert und lockten zahlreiche Besucher in die Kellerstraße.
Ungewöhnlich ist auch die evangelische Kirche Naurod, von außen rund, von innen achteckig geschnitten, Altar, Kanzel und Orgel sind übereinander angeordnet, wie es in kaum einer anderen Vorortkirche der Fall ist.
So beschlossen die Nauroder, dass sie an diesem Abend ihre eigene Kirche präsentieren wollten - und sind im Vorfeld mit dem Mikrofon im Ort unterwegs gewesen: "Wir haben Klänge aus der Gemeinde aufgenommen", berichtet Pfarrerin Arami Neumann. Dazu sind Aufnahmen entstanden, auf denen Nauroder Bürgerinnen und Bürger die Verse lesen, die im Kirchenraum auf Tafeln gemalt sind. Alte und junge, männliche und weibliche Stimmen sind zu hören, immer mit meditativer Musik. Diese Präsentation des Raumes ließ die knapp 250 Besucherinnen und Besucher regelrecht aufhorchen und regte zum Nachdenken an. Vor der Kirche servierten die Konfirmanden Spinattaschen und Sekt. "Das meiste Essen ist jetzt schon weg", sagte einer der Jungs um 21:00 Uhr - da ist die Nacht in Naurod noch lange nicht zu Ende.
Die bizarre Kunstperformance „Die Beerdigung“ in Kooperation mit der Biennale Wiesbaden konnten auch die Kirchennachtbesucher noch mal in der Anglikanischen Kirche St. Augustine erleben: In der vollbesetzten Kirche wurde in einem inszenierten Trauergottesdienst „Unsere Unschuld“ zu Grabe getragen.
Dass die Nacht der Kirchen seit mittlerweile 15 Jahren auf so ungebrochen großes Interesse bei den Wiesbadenern stößt, freut die Veranstalter. Der evangelische Dekan Martin Mencke sagt: „Es ist schön, dass Kirche - mitten in unserer Zeit und in unserem Leben stehend – in dieser besonderen Nacht ihre Türen einladend öffnet und viele Menschen ihre Herzen.“ Pastoralreferent Thomas Weinert vom katholischen Stadtbüro hofft, dass die Veranstaltung in ökumenischer Verbundenheit noch viele Jahre weiter besteht: „Es ist schön zu sehen, dass diese Nacht die Menschen in Bewegung bringt, denn es geht um Begegnungen – mit anderen, mit sich selbst und mit Gott.“
In der Marktkirche zählte Pfarrer Holger Saal mit den bewährten Auftritten der „Dancing Pipes“ und des Gospelchors „Xang“ sowie dem Kindermusical „Joseph“ eine Rekordzahl von mehr als 1500 Besuchern. Rund 220 Portionen biblischen Essens hat er vor der Kirche verkauft, denn Kirchennacht macht hungrig. Stärken konnte man sich auch mit den von Pfarrer Ralf Gmelin selbstgemachten Falafeln in der Ringkirche.
Wein, Kleinigkeiten zum Essen, Musik in allen Facetten, stimmungsvolles Licht und Scharen von Besuchern mit blauen Programmheften in den Händen prägten auch das Bild in den anderen Kirchen. Die Kreuzkirche verbuchte sogar zwei Kircheneintritte.
Die Bergkirche war voll besetzt, als die beiden Pfarrer Markus Nett und Helmut Peters in die Rollen eines Arbeiters im Weinberg und eines Sommeliers schlüpften. Mehr als eine Stunde lang lachten die rund 250 Besucher über die kabarettistische Weinprobe der beiden Pfarrer. Dass den Zuschauern und den Mitwirkenden währenddessen sechs verschiedene Weine ausgeschenkt wurden, tat für die gute Stimmung sein Übriges. Nett und Peters teilten während ihres Spiels ordentlich aus. Ihr Fett weg bekamen unter anderem die Kirchenverwaltung, die Bundespolitik und der ehemalige Propst Rink.
Gerade die Außenorte – in diesem Jahr Sonnenberg, Naurod, Auringen, Autobahnkirche Medenbach und die evangelische Kirche Wildsachsen – profitierten erheblich von der etablierten Großveranstaltung. Die Sonnenberger Kirchen freuten sich über knapp 300 Besucher. Der evangelische Pfarrer Thomas Hartmann hatte "Schöpfungsmythen der Welt" als Thema des Abends gewählt. Und da gibt es schon sehr viel mehr als nur die biblischen Texte.
Auch aus den Psalmen las Hartmann vor. Aber ebenfalls aus der germanischen "Edda", aus ägyptischen Texten - und sogar einen wissenschaftlichen Exkurs über den Urknall zitierte der Sonnenberger Pfarrer. "Denn auch das ist ja ein Mythos. Niemand kann es beweisen - die Physik versucht es zu erklären, aber letztendlich ist alles Spekulation. Doch ob nun der Mensch aus der "Ursuppe" entstand oder aus zwei Bäumen geschaffen wurde, aus der Vereinigung des Himmels und der Erde - oder aus dem alttestamentarischen Tonklumpen, irgendeinen Impuls muss es gegeben haben, damit wir heute existieren. Über hundert Zuhörer in der kleinen Thalkirche lauschten den Ausführungen des Pfarrers, die von dem wunderbaren Trio Andreas Karthäuser (Harmonium) Szilvia Toth (Klavier) und Jens Hunstein (Saxofon) mit Musik von Alexander Glazunow untermalt wurden. "Es sind sehr viele Menschen hier, die ich noch nie in dieser Kirche gesehen habe", freut sich der Pfarrer über das große Interesse. Und macht ausgesprochen pünktlich Schluss, denn die Musiker mussten um 20:00 Uhr bereits in der einige Schritte entfernten katholischen Kirche weiterspielen.
Dort widmet sich der Kollege Frank Schindling einem ganz anderen Thema, nämlich "Hochzeit". Er las eigene Texte, und die Musiker - dieses Mal mit Wolf Dobberthin am Saxofon - intonieren Hochzeitsmärsche und -Tangos aus diversen musikalischen Epochen.
Die kleine evangelische Kirche Auringen, die gerade ihren 300. Geburtstag gefeiert hat, platzte aus allen Nähten. Pfarrerin Bea Ackermann leitete ihren eigenen Projekt-Gospelchor, der vor fünf Jahren gegründet wurde und bei besonderen Anlässen in der Gemeinde auftritt. "This little light of mine", sang der Chor, und Bea Ackermann motivierte die Zuhörer zum Mitmachen. Die Besucher waren sichtlich mitgerissen, die Sitzplätze knapp. Auch wunderbar passend, jeden Freitag gibt es in Auringen den Weinstand, den unterschiedliche Vereine bestücken. Er steht direkt gegenüber der Kirche und war an diesem Abend besonders gut frequentiert.
In der großen Innenstadt-Kirche St. Elisabeth leuchten viele Kerzen. Der spektakuläre, riesige Leuchter, der den Kirchenraum überspannt, ist gedimmt, die Atmosphäre meditativ. Die Choralschola - zehn Männer in Ministrantenuniform - begibt sich in den Orgelraum und singt lateinische Gesänge. "Ora et labora", das benediktinische Motto, ist die Überschrift des Abends. Die Reihen sind nur spärlich gefüllt, aber wer da ist, scheint ergriffen von der kontemplativen Stimmung in dem riesigen Raum. Pastoralreferentin Jutta Fechtig-Weinert gibt kurze Denkanstöße zum Thema "Bete und arbeite" - die Balance zwischen Spannung und Entspannung, zwischen Arbeit und freier Zeit soll das Leben sinnvoll strukturieren. Dazwischen singen die Männer der Choralschola und Organist Evert Groen erschafft musikalische Bilder. Während der 45 Minuten, die die Andacht dauert, herrscht Kommen und Gehen, doch die Besucher verhalten sich leise und höflich. Konzentration und Gelassenheit: An diesem Abend sehr spürbar in St. Elisabeth.
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Fotos: Andrea Wagenknecht & Anja Baumgart-Pietsch